“Jo im roten Kleid”

Eröffnung „Spurensuche“ mit „Jo im roten Kleid“
Highlight, Kinder & Jugend, Kritiken, Spurensuche 2014, Vorberichte — By Redaktion-SI on 26. Juni 2014 1:40 Uhr Fundus Theater

Eröffnung “Spurensuche” mit “Jo im roten Kleid” — Godot – Das Hamburger Theatermagazin.    10.07.14 16:12
Preisgekröntes Duo zur Eröffnung der „Spurensuche“: „Jo im roten Kleid“ vom Theater Trieb- werk aus Hamburg
Text: Sören Ingwersen | Foto: Margaux Weiß
Leere Stühle sind beim Eröffnungsempfang des fünftägigen Festivals „Spurensuche“ im Fundus Theater Mangelware. Etwa 120 Theatermacher sind bis zum 29. Juni im Kinder- und Jugendtheater in der Hasselbrookstraße zu Gast. Für Theaterleiterin Sibylle Peters der „Höhepunkt einer dreijährigen Testphase“. Gemeint ist das hauseigene Format des „Forschungstheaters“, bei dem es darum geht, mit spielerischen Aktionen ein besseres Verständnis für komplexe Problemfelder zu entwickeln. Ort des „Forschungstheaters“ ist der neue Raum direkt hinter der Bühne, in den Peters live hineinfilmt. Das Kamerabild zeigt eine offene Tür auf dem geschlossenen Vorhang: „Nun ist unser Haus groß genug für die ‚Spurensuche‘!“ Die kleine Perfor!mance zur Begrüßung im Theatersaal kommt gut an.
In den nächsten Tagen werden auf dem Festival der Assitej (Association Internationale du Théâtre pour l’Enfance et la Jeunesse), das seit seiner Premiere 1992 auf Kampnagel erstmals wieder in Hamburg stattfindet, herausragenden Produktionen des freien deutschsprachigen Theaters für Kinder und Jugendliche gezeigt. Hinzu kommen Workshops, Vorträge und Inszenierungsgespräche. Am Eröffnungstag steht eine Hamburger Inszenierung gleich zweimal auf dem Programm: die 2013 mit dem Kindertheaterpreis der Hamburgischen Kulturstiftung ausgezeichnete Produktion „Jo im roten Kleid“ vom Theater Triebwerk.
Das Kleid seiner Mutter möchte er anziehen. Das mit dem tiefen Ausschnitt. Und sich dann vor dem Spiegel bewundern. Muss Jo sich dafür schämen? Ein Junge mit vielen Fragen, die sich mit dem Satz „Wann ist ein Mann ein Mann?“ vielleicht am besten auf den Punkt bringen lassen. Heino Sellhorn liest die Zeilen des berühmten Grönemeyer-Songs vom Blatt. Uwe Schade hat sich derweil – hinter der Papierwand nur als Schattenriss sichtbar – in Schale geworfen und sein begehrtes Objekt übergestreift: das rote Kleid.
Mit großer Eindringlichkeit gelingt es Regisseurin Nina Mattenklotz und den beiden hervorragenden Darstellern, gängige Geschlechterrollen zu hinterfragen und zugleich eine Geschichte vom Erwachsenwerden zu erzählen. Bruchstücke von Erinnerungen blitzen auf. Was ist peinlich? Dem eigenen Vater ähnlich zu sehen? Wovor fürchtet man sich? „Ich habe Angst rauszugehen. Ich habe Angst, dass mich keine mag“, sagt Jo. Im Dunkeln steht sein Bühnenpartner, diabolisch nur von einer Taschenlampe angeleuchtet: „Verpiss dich! Dich will hier niemand haben!“ Kurz zuvor hat Pfundskerl Sellhorn – der auch als tapsige Ballettprinzessin eine gute Figur abgibt – sich die Springerstiefel angezogen. Sein Stechschritt knallt bedrohlich auf dem Parkett. Hier ist der Mann ganz Mann. Und Jo das Opfer. Röcheln, Prusten, Schnaufen. Die Loop-Maschine nimmt die Geräusche auf und verlängert sie zu einem Kopfkino der Gewalt. Dann greifen sie wieder zu ihren Instrumenten, Schade zum Cello, Sellhorn zum Kontrabass. Denn die Musik ist wesentlicher Bestandteil dieses Stücks für Jugendliche ab 10 Jahren. Ein Stück, das nachdenklich macht, aufrüttelt, in Sekundenschnelle Stimmungen zaubert und nach 45 Minuten leider viel zu schnell vorbei ist.
Jo hat den Mut, sich und seine Geschlechtszugehörigkeit in Frage zu stellen, neu zu erfinden. „Alles nur erfunden“ ist auch das Thema der „Spurensuche“, die noch bis Samstag spannende Inszenierungen zeigt: „Ernesto Hase hat ein Loch in der Tasche“ mit dem Ensemble Materialtheater, Stuttgart (26.6, 10 Uhr), „Ein Bodybild“ mit dem Theater Marabu, Bonn und dem cobratheater.cobra, Hamburg und Hildesheim (26.6., 20 Uhr), „Mutige Prinzessin Glücklos“ mit dem Theater Ozelot, Berlin (27.6., 10 Uhr), „Die Daniel Schneider Show“ mit dem Theater Mummpitz, Nürnberg (27.6., 19 Uhr), und „Trau Dich!“ mit der Kompanie Kopfstand, Berlin (28.6., 18 Uhr).

 

 Jo im roten Kleid: Was ist männlich?

Was ist männlich? Und was braucht ein Mann, um als Mann zu gelten? Die
Begründung der Jury und ein Interview mit den Machern von «Jo im roten
Kleid»
Eingeladen zu den Mülheimer Theatertagen 2013:
«Jo im roten Kleid»
Autor: Heino N. Schade
Regie: Nina Mattenklotz
Mit: Uwe Schade, Heino Sellhorn

Begründung der Jury:
«Dieser Junge ist vielleicht zehn Jahre alt,
und als wenn es für ihn zwischen Schulhof
und Elternhaus nicht schon kompliziert
genug wäre – jetzt kommt auch noch etwas
hinzu und ändert alles: sein Körper. Gerade
noch war der einfach nur da. Eignete sich
wie selbstverständlich für das Essen,
Trinken, Lernen, Skateboard fahren, Fußball
kicken, plötzlich aber (wann genau ist das
eigentlich passiert?!) will dieser Körper was,
und zwar etwas sehr Eigenes, wie es
scheint. Beim Fußball fühlt er sich mit
einem Mal unwohl, dafür sieht er sich jetzt
gern im Spiegel. Ist das nun schon peinlich
für einen Jungen? Bestimmt noch nicht.
Aber was ist, wenn dieser Körper nun auch
einmal das rote Kleid der Mutter an sich
spüren will? Peinlich? Oder doch nicht? Fragen, die wieder andere Fragen folgen lassen,
ein Männerleben lang. Was ist männlich, wie viel braucht ein Mann davon, um als Mann
zu gelten. Muss er das überhaupt, ist diese «Männlichkeit» vielleicht doch nur noch
eine Vokabel aus der Parfümwerbung?
Die Gruppe Heino N. Schade ließen sich von Jens Thieles gleichnamigem Bilderbuch zu
eigenen Bildern, Texten und dramaturgischen Lösungen anregen. Schwulsein oder
Nicht-Schwulsein, das ist hier nicht die Frage. Jedenfalls nicht die alles bestimmende.
Die beiden Musiker und Schauspieler prüfen Lebenshaltungen. Wer wen liebt – wie
schwierig die erste Antwort auch sein mag, sie löst nicht ein für allemal unsere
Probleme, es wird noch schwieriger: Wie verhalte ich mich zu mir, wie zu anderen. Wie
gerecht und fair muss ich sein, selbst zu meinen Feinden. Was habe ich in diesem
Leben mit mir vor; darf ich Angst haben, ohne gleich feige zu sein. Bleibende Fragen,
ganz egal, ob man nun weiblich oder männlich, erst zehn oder schon erwachsen ist.
Schade und Sellhorn werden mit Lust und Humor grundsätzlich aber nie allgemein oder didaktisch.
Das Thema ist ihnen zu groß, um es auf eine einzige Geschichte oder Botschaft zu verengen, sie erhalten seine Vielfalt durch die Mittel des Erzähltheaters und der Collage. Das gelingt, ohne statisch zu dozieren oder szenisch beliebig zu werden. Bass und Cello, Dialog, Harlekinade, direkte Publikumsansprache und sogar Grönemeyer als Moritatengesang – Uwe Schade und Heino Sellhorn verfügen über viele Mittel, um auf leichte Art schwierig zu werden.» Oliver Bukowski
Theaterheute-Muelheimer-Theatertage 2013