Der Musterschüler: Mustergültig

Es gibt diese Theaterabende, die prickeln, die bannen und die die Luft zerreißen – und die Nerven. “Der Musterschüler” war so ein Abend. Er prickelte. Er bannte. Er zerriss. Doch was er am meisten tat, war dies: zu zeigen, dass Theater funktioniert, wenn es einen Grund gibt, einen Grund für seine Existenz, einen Plot, der unbedingt raus muss und unter die Leute.
Kein geringerer als Stephen King ist denn auch der Pate dieses Plots. Und wenn King eines versteht mit seiner Literatur, dann ist es der Aufbau von psychologischer, ja von gruselnder Spannung. Dass Stephen Kings Novelle “Der Musterschüler” aber auch auf der Bühne funktioniert (wir haben es gerade beim Triangelfestival in Konstanz erlebt), ist Erik Schaeffler zu verdanken, der die Story um Todd und den alten, inkognito lebenden SS-Offizier Dussander fürs Jugendtheater ab 14 Jahren adaptiert hat.
Klar, dass so eine Thematik auf einen trübsinnigen Abend drängt, auf Nachdenklichkeit und Depression. Und hier beginnt das Wunderwerk der Produktion des Theater Triebwerk (Hamburg) und der Theaterwerkstatt (Hannover): trotz ernster Spannung glimmen Funken von Frohmut auf, die das Blei erleichtern.
Vier Menschen stellt die Regisseurin Martina van Boxen auf die Bühne – zwei Schauspieler, zwei Musiker -, ein paar Möbel und jede Menge Whisky-Flaschen. Das reicht auch absolut. Michael Habelitz spielt den Kurt Dussander, den unter dem Decknamen Arthur Denker lebenden SS-Offizier, der für die Geißelung, Vergasung und Verbrennung von 700000 Juden verantwortlich ist. Todd (gespielt von Erik Schaeffler selbst), ein adretter 15-Jähriger Intelligenzbolzen, entlarvt Denker alias Dussander, doch statt ihn anzuzeigen, geht er täglich zu ihm und geilt sich an den KZ-Geschichten des Misanthropen und Immer-noch-Rassisten (“Judenschweine”) auf.
Zwischen ihnen beiden spielt sich der Thriller ab. Todd und Dussander geraten allmählich in eine unüberbrückbare Abhängigkeit: Sie brauchen einander. Sie quälen einander und wirbeln in einem Gewinde der Gewalt. Und gegen Ende hilft Todd sogar noch dabei, Dussanders Leichen im Keller zu verscharren – ja: Dussander ist ein Pennermörder.
Beide, Habelitz und Schaeffler, schlüpfen zeitweise aber immer wieder auch in andere Rollen oder erzählen die Geschichte – vermutlich King im O-Ton – einfach, wie sie ist. Das tut auch dem fesselnden Spiel auf der Bühne gut. Es schafft Lockerung, Chill-Out.
Eine wichtige dramaturgische Rolle spielt dabei auch die Musik. Der Cellist Uwe Schade und der Bassist Heino Sellhorn liefern dazu sozusagen die Musik zum Film. Mit krächzendem Kratzen und pochendem Puls machen sie das Anziehen des SS-Mantels zum Revolverduell, mit einem Ausschnitt aus einer Suite für Solocello von Johann Sebastian Bach wird das Durchschneiden der Pennergurgel aufs Sarkastischste bagatellisiert, und am Ende, wenn man quasi 700000 Juden begraben hat, erklingt eine Art Klezmermarsch. Grandios.
Es gibt wenig Theaterabende, die so gut funktionieren. Dieser “Musterschüler” war mustergültig.

Kritik zu „Der Musterschüler“ aus Anlass einer Aufführung
beim „Triangel-Festival“ im Stadttheater Konstanz im Juni 2004
Stefan M. Dettlinger – Südkurier vom 19. Juni 2004